Ein Friseurunternehmer in Thüringen

Thomas Kemmerich, Fraktionsvorsitzender der Thüringer FDP, welche es bei der Wahl im letzten Herbst nur mit 73 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde in den Thüringer Landtag geschafft hat und dessen Fraktion aus nur fünf Mitgliedern besteht, wurde gestern überraschend im Erfurter Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Das ist eine politische Sensation, aber ja eigentlich kein Thema für einen Blog eines Hamburger Friseurunternehmens. Doch diesmal ist das anders. Thomas Kemmerich ist nicht nur politisch aktiv, sondern eben auch ein sehr engagierter Friseurunternehmer. Er ist mir wohl bekannt, wir haben schon so einige spannende Diskussionen geführt – und er ist Mitglied der Friseurvereinigung „Intercoiffure“, für die ich seit vielen Jahren im Deutschen Vorstand aktiv bin.

Einer von uns, ein „Intercoiffure“, als Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes, dass ist schon etwas besonders. Das hat was. Darüber sollte ich mich eigentlich riesig freuen. Kann ich aber nicht. Zu fragwürdig ist diese Wahl gestern zustande gekommen. Wer (warum auch immer) das große politische Erdbeben der letzten 24 Stunden nicht mitbekommen hat, kann es zB hier nachlesen.

So wie ich Thomas kennen gelernt habe, könnte er unter „anderen Umständen“ sogar ein toller Ministerpräsident sein. Er ist Meinungs- und Durchsetzungsstark, dabei aber auch angenehm emphatisch und kann auf Menschen zugehen. Er respektiert unterschiedliche Sichtweisen und versucht Brücken zu bauen. Politische Positionen, wie zB seine Engagement gegen eine Befreiung der Kleinunternehmer (das sind die, die angeben unter 22.000,00 – früher 17.500,00 – Euro Jahresumsatz zu liegen und so u.a. von der Umsatzsteuer befreit werden – gut 1/3 aller Friseursalons in Deutschland geben dies an), teile ich ausdrücklich. Ich habe seine politische Karriere aus der Entfernung mit Interesse verfolgt und ihm immer nur das Beste gewünscht. Was da jedoch gestern in Erfurt passiert ist, kann ich bei aller Sympathie weder nachvollziehen noch akzeptieren.

Thomas Kemmerich ist gestern mit einstimmiger Unterstützung von Björn Höckes AfD gewählt worden. Da es sich um eine geheime Wahl handelte, will ich zunächst weder Thomas noch der FDP einen großen Vorwurf machen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man vom Taschenspielertrick der AfD überrascht wurde. Tatsache bleibt jedoch, dass ohne die Gnaden eines Björn Höcke (der offiziell als „Faschist“ bezeichnet werden darf – und dessen Thüringer Fraktion vom Verfassungsschutz beobachtet wird), Thomas Kemmerich jetzt kein Ministerpräsident wäre.

Das eine Partei dem eigenen Kandidaten im dritten und entscheidenen Wahlgang nicht eine einzige Stimme gibt, ist einmalig in der deutschen Demokratie. Das die AfD mit diesem Kniff die Überraschung perfekt machte, ist die eine Wahrheit. Die andere ist jedoch, dass wenn man in einem so zweifelhaften Vorgang gewählt wird, man selbige ja nicht annehmen muss. Der Parteichef von Kemmerichs Partei, Christian Lindner, hat vor drei Jahren mit dem Satz „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“ Geschichte geschrieben. Ob das damals gut oder schlecht war, möchte ich heute in diesem Blog nicht diskutieren. Ich denke jedoch, dass gestern ein guter Zeitpunkt gewesen wäre, diesen Satz zu wiederholen.

Im Thüringer Wahlkampf hat Thomas Kemmerich mit folgendem Plakat für sich geworben:

Wenn das nicht nur ein Werbespruch war, wenn das wirklich ernst gemeint war, dann hätte er die Wahl gestern niemals annehmen dürfen. Oder er müsste, nachdem er gestern überrumpelt wurde und jetzt 1x darüber geschlafen hat, noch heute zurücktreten und sich für Neuwahlen einsetzen.

Die Presse schrieb gestern oft von einem politischen „Dammbruch“ – und ich sehe das ganz genau so. Sollten FDP und CDU in Thüringen diesem Spuk nicht sofort ein Ende machen, sind diese Parteien sicherlich für sehr viele potenzielle Wähler auch bundesweit zukünftig nur noch sehr schwer wählbar. Eine Zusammenarbeit jeglicher Art mit der rechtsradikalen AfD ist auch für mein Werte-empfinden unanständig und untragbar.

Noch einmal ganz deutlich: Das die Wahl gestern so lief wie sie lief und unser Kollege und Intercoiffure-Freund Thomas Kemmerich überraschend durch die Mithilfe der AfD bei der Direktwahl eine Stimme mehr erhielt als der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow, das werfe ich weder ihm, noch der FDP, noch der unterstützenden CDU vor. Das man jedoch diese ominöse Wahl annimmt, ist aus meiner Sicht der eigentliche Skandal und hilft wirklich niemanden – außer Björn Höcke und der AfD. Ich gebe zu, dass hat mich gestern irritiert und traurig gemacht. Und es fühlt sich heute früh nicht besser an.

@Thomas: Zeige bitte der deutschen Bevölkerung, die Dich bisher noch nicht gekannt hat, genau das, was ich mit Dir bisher immer verbunden habe: Stärke, Anstand & Größe. Thomas, bitte trete umgehend zurück.

Lars Nicolaisen