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Lars Nicolaisen:

Ich bin Mitglied in der wertvollen Facebook-Gruppe „Friseure mit Visionen“. In dieser Gruppe wird seit gestern über einen Artikel von Focus Online diskutiert. Titel: „Friseure in der Dumpinghölle: Waschen, Schneiden, Föhnen für 4,95 Euro. Wer verdient eigentlich noch an den Billig-Angeboten?

Die von mir hoch geschätzten Kollegen diskutieren eifrig über den Artikel und dessen Inhalt. Ich stimme den in der Facebook-Gruppe geäußerten Meinungen zu, dass der Ansatz des im Artikel beschriebenen Friseurkollegen Jürgen Tiez zu verurteilen ist. Aber noch viel mehr mehr entsetzt bin ich über die journalistische Arbeit bei Focus Online.

Schon der Titel ist ja unteririsch. Viel zu lang und wirkt auf mich völlig unprofessionell. Dann ist das Layout der Seite erschreckend. Was ist aus Focus Online bloß geworden? Ein Anzeigenfriedhof der übelsten Sorte. Dann fällt mir auf, dass es bei Focus Online anscheinend mittlerweile als unwichtig angesehen wird, WER die Artikel dort schreibt. Es gibt keinen Hinweis auf den verfassenden Journalisten. Gibt es überhaupt noch einen? Oder werden Artikel bei Focus Online inzwischen von seelenlosen Computerprogrammen zusammen gesetzt? Auf dieses Ergebnis kann man problemlos kommen, denn mit nur ein wenig Branchenkenntnis sind die dort angegebenen „Fakten“ mehr als nur zu hinterfragen. Beispiele?

…Verbraucher bekommen hier einen neuen Haarschnitt für lächerliche 4,95 Euro verpasst. Zum Vergleich: Beim Friseur im Berliner Stadtzentrum zahlen Kunden das Fünffache…“ Das Fünffache wären 24,75 Euro. Ich bin der festen Überzeugung dass „Waschen, Schneiden, Föhnen“ auch im hart umkämpften Stadtzentrum Berlins im Durchschnitt deutlich teurer sein wird. Sein muss. Sollte es einen lebenden Verfasser dieses Focus Online Artikel wirklich geben, und sollte diese Person 24,75 Euro als ein hohes Beispiel ansehen, dann würde ich gern mit dieser Person über sein Verständnis und seine Wertschätzung gegenüber des Handwerks und über unser dreijähriges Duale-Ausbildungssystem in Deutschland sprechen.

…Während die Kunden entspannt warten, schwitzen die Friseure. 15 bis 20 Köpfe muss jeder von ihnen innerhalb einer Stunde abfertigen…“ 15 bis 20 Kunden pro Friseur pro Stunde? Wie soll das den gehen?  Das wären dann ja alle 3 bis 4 Minuten ein neuer Kunde. Ohne Pause. Hä? Da scheint jemand extrem nachlässig recherchiert zu haben. Oder vielleicht gar nicht? Und gibt es bei Focus Online eigentlich noch so etwas wie eine Redaktion die vor der Veröffentlichung eines Artikels den Inhalt nach Glaubwürdigkeit begutachtet?

… Julia P. ist 33 Jahre alt und von Beruf Krankenschwester. Sie hat ein Foto von TV-Moderatorin Sylvie Mais dabei.  „Ich hätte gern die Haarfarbe“, sagt sie der Friseurin….“ Laut Preisliste werden in dem Salon Farben „ab 13 Euro“ berechnet. Und dann wünscht sich jemand eine Farbe wie die von Sylvie Mais? Für 13 oder etwas mehr Euro? Sagt mal, bin ich eigentlich nur noch von Wahnsinnigen umgeben? Natürlich wird in dem Artikel auch nicht darüber berichtet wie denn nun das Ergebnis am Ende war. Und es wird auch nicht angemerkt, dass „ab“-Preise nach der aktuell geltenden Preisangabenverordnung nicht zulässig sind.

Das beste zum Schluss. „…Louisa freut sie sich über Trinkgeld. Doch das gibt es von den wenigsten. „Die meisten runden auf fünf Euro auf“, sagt sie…“ Mal davon abgesehen dass ich durchdrehen könnte wenn ich höre, dass es Kunden gibt die einer Friseurin 5 Cent Trinkgeld geben, so bin ich noch viel mehr über das Ende des Artikels überrascht. Denn der eben von mir zitierte Satz war wirklich der letzte Satz. Mehr kommt nicht. „Moment mal„, dachte ich mir beim ersten durchlesen. Steht nicht im Titel „Wer verdient eigentlich noch an den Billig-Angeboten“? Hallo? Wie wäre es wenn man diese selbst gestellte Frage auch beantwortet? Das wird aber gar nicht getan. Focus Online scheint es völlig egal zu sein ob solch ein Geschäftsmodell überhaupt aufgehen kann. Sagt mal, geht es noch? Zum Glück gibt es Kollegen mit Hirn, Herz und Verstand, die sich dieser Sache annehmen. Claas Lohmeyer schreibt bei Facebook:

Jeder halbwegs intelligente Mensch sieht auf den ersten Blick, dass die Zahlen unmöglich stimmen können. Rechnen wir kurz nach:
€ 4,95 für den Schnitt…
Nach Steuern (€ 0,95) sind es dann noch glatte € 4,00
Realistisch kriegt man einen 08/15 Schnitt (mit den so geliebten Aufsätzen) in ca 15 Minuten hin. Wenn man sich ranhält. Bei einem Mindestlohn von € 8,50 entspricht dies dann Lohnkosten von € 2,13. Somit reden wir von einem „Gewinn“ € 1,87 von dem dann auch noch sämtliche Kosten (Miete, Produkte, et…) und sämtliche Steuern bestritten werden sollen. Das ist schlicht und ergreifend NICHT möglich.

Dieser Sicht von Claas stimme ich zu 100% zu. Und genau hier wäre es doch einmal ein toller Ansatz gewesen beim verantwortlichen Friseur Jürgen Tiez nachzuhaken. Das wäre der Moment wo der Journalist seine eigentliche Arbeit hätte aufnehmen müssen. Recherchieren, nachfragen, hinterfragen. Wird alles nicht getan. Lieber werden Werbeflächen von Ricola, BMW und Saturn eingeblendet. Worum geht es Focus Online eigentlich? Mehrwert für den Leser oder Mehrwert für die Werbekunden? In meinen Augen sind hier die Prioritäten total verschoben. Das erinnert mich an eine Podiumsdiskussion der ich vor gut drei Jahren beiwohnen durfte. Das Thema lautete damals: „Was ist guter Journalismus noch wert?“ Also wenn Institutionen wie der Focus anscheinend schon jeglichen Anspruch an sich selbst verloren haben, dann ist zumindest solch ein Journalismus noch nicht mal einen Haarschnitt bei Jürgen Tiez wert. Beschämend.

Hier geht es zum besagten Artikel: http://www.focus.de/finanzen/news/friseure-in-der-dumpinghoelle-waschen-schneiden-foehnen-fuer-4-95-euro-wer-verdient-eigentlich-noch-an-den-billig-angeboten_id_5340792.html

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EmmaLu

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